Das kleine Moralschriftchen, das noch in die Zeit Ritas hineinreicht und das dort in ihrem Kloster wiederentdeckt wurde, offenbart in aufschlussreichen und verhaltenen Worten die Gedanken und die Welt, in der sie lebte und die sie umgab. So ist die Rede von dem oberflächlichen Christentum, mit dem sich die Töchter Evas z.T. begnügten. Dafür verwendeten sie umso mehr Zeit für den Kult der Schönheit, der fast jeden Trick der modernen Kosmetik kannte (s.a. Mode). Der Verfasser der Moralschrift lässt sich allerdings nicht vom frommen Augenaufschlag der Cascianerin beschwichtigen. Er nimmt sie ins Verhör und zwingt sie zu einer Gewissenserforschung, die beinahe keine Schwächen unentdeckt lässt und damit ein vollendetes Zeitbild gibt. “Du bist aufdringlich bei deinem Manne gewe-sen, damit du viele Kleider kaufen konntest und noch vieles mehr, als sein Vermögen ihm gestattet! Du kleine Heuchlerin! Du machtest ohne Wissen deines Mannes mächtige Ausgaben mit jenem Geld, das für den Haushalt bestimmt war; trotzdem trägst du einen langen Rosenkranz und setzt eine fromme Miene auf! Duckmäuserin mit deinem langen Rosenkränzchen, willst du den lieben Gott vom Kreuze holen oder seine Heiligenbilder von der Wand?” Muss man nicht lächeln über diese unbesiegbare Weiblichkeit, die sich so lebhaft und aufdringlich gibt? Sie beweist allzu deutlich, dass unsere Rita nicht unter den Heiligen des Paradieses ihre Tage zubrachte, sondern unter Frauen von normaler moralischer Erscheinung, unter lauter gewöhnlichen, armen und diskutierbaren Kindern Cascias. Um uns Einsicht über das Milieu von Cascia gewinnen zu lassen, … wir weiter in den Ausführungen des Moralschriftchens, das auch die Söhne Adams nicht ungeschoren lässt. Auch sie waren nicht alle Heilige. Sie zogen es z.B. vor, “die schöne Gelegenheit der gebotenen Festtage zu vergeuden mit Ritterspiel und Tanz, mit Singen zu Gitarren, mit Würfel, Karten, Ball- und Schachspiel”. – “Gern fingen sie Streit an, aßen und schliefen im Übermaß, betrogen den Nächsten, vergeudeten ihre Zeit und taten anderen, was sie auf keinen Fall sich selbst zu tun wünschten”. Auch sie vergaßen damals “Gott zu danken für ihre Gaben und Talente, für ihre Gesundheit und Schönheit, für ihren Reichtum und für ihre Kinder”. – “Sie brachten es nicht fertig, dem Nachbarn zu verzeihen, sie beteten nicht für ihre lieben Toten, sie vollstreckten nicht einmal ihr Testament und zahlten nicht ihre Schulden”. In der Schenke führten sie eine lose Zunge: “Gott hätte das nicht machen dürfen”, – “Gott hat das gar nicht schön gemacht”. Nicht anders als die putzsüchtige Eva ging auch der eitle Adam nur allzu oft aus dem Grunde zur Kirche, damit er schöne Mädchen sähe, wenn er es nicht gar vorzog, außerhalb zu bleiben und “auf dem Platze auf und ab zu stolzieren, mit den Augen an den Fenstern und spähend nach einem hübschen Gesichtchen”. Ausgesprochen schwierig scheinen die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gewesen zu sein: “Du hast deinen Eltern böse Antworten gegeben, hast über sie zu Hause und in der Öffentlichkeit gemurrt; du hast sie verlacht und ihnen nicht behilflich beigestanden, wo sie auf dich angewiesen waren…”. Motive zu heimlichen Tränen gab es also auch in den Häusern jenes Cascia, das nun seit 500 Jahren nicht mehr ist. Und das arme Fleisch? In nichts unterscheidet es sich von den heutigen Tatsächlichkeiten. “Du hast dich verliebt und bist zur Messe gegangen nur deiner Liebsten wegen, du hast geküsst und umarmt…, ihretwegen hast du Streit angefangen und deine hitzigen Worte ließen die Degen klirren…, du hast dich vor anderen deiner Sünden gerühmt, auch derjenigen, die du gar nicht begangen hattest. Du sagtest: ‘O, wenn ich ein Vöglein wär’, flög’ ich in das Kämmerchen meiner Flamme’, … du hast Anderen das schlimmste Beispiel gegeben…”. Das Register ist wie eine zeitlos gültige Gewissenserforschung; – und solch ein junger Mann warb um Rita, liebte und heiratete sie. Ein ausführlicher Sündenkatalog wird in der Moralschrift verzeichnet: Raub, grober Diebstahl, Wucher, Simonie (= Kauf oder Verkauf von geistlichen Ämtern oder Dingen). Alle Schwächen ziehen am scharfen Auge des Inquisitors vorüber: “Du hast betrogen beim Kaufen und Verkaufen, du hast geschworen, um größeren Kredit zu machen, du hast Falschgeld unter das gute gemischt, du hast geschwindelt an der Waage…, hast gestohlene Dinge gekauft…, vom hohen Rosse herab hast du den armen Bauern geschädigt und deine Pferde durch sein Getreide gejagt”. Scheinbar war also der stolze Ritter mit dem Falken auf der Hand nicht immer von ritterlicher Gesinnung. Als schlimmste Anklage gegen eine stolze Cascianerin aber galt jener Vorwurf: “Deine Mitgift ist gestohlenes Gut, Frucht aus dem Wucher deines Vaters!” Die Handelsmoral ist diejenige der Paragraphen des Stadtgesetzes, das die gleichen Vergehen verhüten wollte: “Beim Kartenspiel hast du die anderen listig hintergangen…, du hast den Arbeitern den Lohn vorenthalten…, du hast gekauft und nicht bezahlt…, hast Schaden zugefügt, ohne ihn zu ersetzen…, das Brot eher den Hunden als den Armen gegeben…, und wenn du schon mit herablassender Geste Almosen gabst, so geschah es mit mürrischer Miene…, du fälltest als Schiedsrichter unwahren Spruch, weil du dich nicht kümmerst um Recht und Unrecht, aus Freundschaft und aus Liebe zum Bestechungsgeld”. Auch dies klingt uns nicht allzu fremd in den Ohren. Geiz, Esslust, Trinklust und das arme Fleisch (in dieser Reihenfolge!) sind die Haupttendenzen, die der strenge Moralist zuletzt hernimmt, weil man damals wusste, dass die Laster des Stolzes, des Neides, des Zorns und des Sich-gehen- lassens weit verhängnisvollere Ausflüchte für das Menschenherz sind. Inmitten dieser Menschheit und Menschlichkeit hat Rita ein Leben in Heiligkeit und seelischer Transparenz geführt. Von ihren Mitbürgern hat der Wind auch das letzte Körnchen Staub verweht; sie aber lebt seit 500 Jahren weiter für Tausende ihrer Verehrer und Bewunderer.
Wer über Heiligkeit vergangener Zeiten berichtet, kommt in die Versuchung, dem heutigen Rahmen der religiös – gesellschaftlichen Kritik einen idealisierten historischen gegenüber zu stellen. Sicher ist das nicht die Wirklichkeit. Immer gibt der Mensch mit seiner Menschlichkeit das Maß. Wer also heilig werden will, muss den Mut besitzen, unter den Zeitgenossen zu leben, die Gutes und Böses in sich vereinen. Mit sehr betonten Akzenten spricht das Schriftchen von Stolz, Zorn, Neid und von dem totalen Sich-gehen-lassen, so dass die Beschreibung vom Leser unwillkürlich als persönliche Herausforderung verstanden werden muss. Auch unsre Heilige wird sich solche Worte zu Herzen genommen haben, die unmissverständlich von der Kanzel fielen; denn es zittern eher die Heiligen denn die Sünder.
“Der Stolz ist ein Hochmut des Geistes. Stolz heißt, sein Haupt erheben und andere verachten; Stolz heißt, die anderen übertrumpfen: Du hast dich immer mit dem Verlangen getragen, die anderen zu kommandieren…, du hast dich in Überheblichkeit gewiegt wegen deines Reichtums, wegen deines Namens, wegen deiner Beredsamkeit, der Schönheit deiner Gestalt und des Adels deines Blutes…, auch wegen deiner Gewandung…, du hast danach getrachtet, die Fehler anderer zu erfahren…, du hast dich gefreut, wenn andere eine skandalöse Tat begingen, um nicht allein als Sünder zu erscheinen…, du warst arrogant im Tadeln der anderen…, du hast die Armen, Gebrechlichen und einfachen Leute verachtet…, du hast dich ins Licht gestellt, mehr als es deine Tüchtigkeit und die Arbeit deiner Hände es dir erlaubt hätten…, du hast dich gebrüstet, zu haben, was du nicht hast, zu wissen, was du nicht weißt, zu können, was du nicht kannst…, du hast bei Tisch den ersten Platz begehrt, ebenso bei der Predigt, beim Tanz und in der Politik…, du hast das Gute der anderen gelästert: ‘…der weiß nichts, der versteht nichts’…, nur um selber gelobt zu werden…, du hast dir selber mehr geglaubt als dem, der das größere Wissen besaß…, du hast dem Bösen eher gehorcht als dem Guten.”
Frauen und Männer zu Ritas Zeiten sind also von unseren Zeitgenossen nicht sehr verschieden. Aber anzuerkennen ist der Mut, mit dem sie die eigene moralische Erscheinung im Spiegel der Selbstbetrachtung unbarmherzig annehmen. Die Rüge gegen den Neid, das wie ein grünäugiges Ungetüm sich in vielen erbärmlich-kleinlichen Seelen verbirgt, ist geradezu halluzinierend: “Es hat dir leid getan, Menschen zu sehen, die einen gewichtigeren Namen tragen als du, weil du deshalb deinen eigenen Namen schon geschmälert glaubtest…, aus Neid hast du Gottes Gnade verschmäht, hast getrauert, weil Gott andere mehr liebt als dich…, aus Neid wünschtest du die Vernichtung des anderen, die Vernichtung seines guten Namens, seines Eigentums, ja seiner Person…, aus Neid brachst du den Amtseid…, du freutest dich, als deinem Feinde Unglück geschah…, du hast dich ergötzt an der Verzweiflung der anderen…”.
In einem Cascia, das sich von der Vendetta, dem Rachesystem, zerfleischen ließ, darf es niemanden wundern, wenn Zorn gleichbedeutend ist mit der Lust und Gier nach Rache. Wie viele konnte man dieser Sünde zeihen! Oft ging die Rache weit über das Maß des geschehenen Unrechts hinaus: “Anstatt eines Faustschlages möchtest du ihm mit dem Messer antworten, ihn vielleicht sogar töten”.
Die Gewissenserforschung geht noch weiter: “Du bist so sehr gegen den anderen erbost, dass du nichts Gutes von ihm und seiner Familie hören kannst…, du bringst es nicht fertig, dein Herz zu demütigen, um wieder mit ihm zu sprechen, ihm zu verzeihen; … du siehst es nicht gern, wenn dies jemand tut und lässt sie dafür büßen…, aus Zorn hast du Verleumdungsbriefe geschrieben…, du hast aus Zorn den Teufel verflucht, den Wind, das Wasser, die Kälte, die Hitze und die Fliegen, den Tag und die Stunde deiner Geburt, Sonne, Mond und Sterne, Himmel und Hölle, Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, Söhne und Prälaten…, aus Zorn grolltest du gegen Gott. ‘Du grausamer Gott, warum tust du das?’ ” … Vor diesem Verrat am natürlichen und göttlichem Leben mit der tragischen Parallele des verratenen Talentes will die Moralschrift möglichst Viele bewahren: “Du ließest dich so gehen; du wolltest nicht aus dem Hause, auch nicht, um die notwendigsten Besorgungen zu machen…, du ließest dich so weit gehen, dass du dich selber hassen musstest…, dass du mit niemanden reden wolltest…, du hast dich der Faulheit überlassen…, du hast dich so an die Launenhaftigkeit verloren, dass, jemand dir sagte: ‘Gott gebe dir einen guten Tag’, du ihm nicht einmal antworten wolltest…, du hast mit Nichtigkeiten deine Zeit vergeudet, bist über die Plätze und durch die ganze Stadt, ja in die ganze Umgebung geschlendert, hast dich da und dort mit Tändeleien ergötzt, hast nichts Gutes für deinen Leib getan und noch weniger für deine Seele; und die Beichte hast du sogar bist Ostern verschoben…, den Kranken deines Hauses gabst du keine Gelegenheit zum Empfang der Sakramente.”
Cascia war trotz allem immer bereit, Gottes Antlitz auch im menschlichsten Zwielicht zu erkennen und zwar in jeglichen Lebenssituationen, in den gewöhnlichsten und den erhabensten, im Boudoir (= elegantes, privates Zimmer einer Dame), im Geschäft, beim Gesang, beim Tanz und in der Politik.
Und siegte zuweilen der böse Wille, – oft genug war ein Fall nur die Folge eines schwachen, nicht aber eines bösen Willens, der in seiner Gottferne die Stimme des Gewissens nicht mehr klar vernehmbar hören konnte, – so war im letzten die Macht der Liebe, die sich einem größeren Herrn zu diensten gibt, doch noch triumphierenden.